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Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz - Interview mit Rolf Schmiel zu "Toxic Jobs"


"Ich bleibe Optimist."

Rolf Schmiel


Rolf Schmiel ist Dipl.-Psychologe, Bestseller-Autor und einer der führenden Experten für Motivation und Führung in Deutschland.


Mit seinem neuen Buch Toxic Jobs setzt er ein klares Statement für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz und zeigt, wie Unternehmen aus toxischen Strukturen echte Wohlfühl-Arbeitsplätze machen können. Dabei liefert er nicht nur scharfsinnige Analysen, sondern auch konkrete Lösungen, um Arbeitsplätze wieder zu einem Ort des Wohlbefindens zu machen.


In diesem Interview sprechen wir über die Inhalte seines Buches und erfahren, warum Wertschätzung und gesunde Führung die Schlüssel zu einer erfolgreichen Mitarbeiterkultur sind. Lassen Sie sich von seinen praxisnahen Tipps und spannenden Einsichten inspirieren.



Sie sprechen von einer “Renaissance des Humanismus” als Antwort auf die Krise in der Arbeitswelt. Was verstehen Sie konkret darunter, und welche Maßnahmen sind notwendig, diese Vision umzusetzen?


Das Menschliche ist in vielen Fällen in der Arbeitswelt verloren gegangen. Die Arbeitsdichte hat massiv zugenommen, die Anforderungen können von vielen nicht geleistet werden. Und wenn sich Menschen überfordert fühlen, dann fangen sie an, sich gegenseitig zu zerfleischen und das Leben schwer zu machen. Deshalb finden wir so viele Situationen von Mobbing, Bossing und einer schlechten Arbeitskultur. Damit sich das ändert, muss es wieder ein Verständnis geben, was der Mensch wirklich braucht - dafür ist Psychoedukation notwendig. Das heißt, dass wir uns selbst besser verstehen, den anderen besser verstehen und dadurch besser miteinander arbeiten.


Zwischen 2013 und 2023 haben sich die psychisch bedingten Krankheitstage stark erhöht. Was sehen Sie als Hauptursache dieser Entwicklung?


Tatsächlich haben die Krankschreibungen in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent wegen psychischer Belastungen zugenommen. Einer der Hauptfaktoren ist tatsächlich die Digitalisierung und die damit verbundenen massiven Veränderungen in der Arbeitswelt, aber auch in der Freizeit. Das heißt, die Anforderungen in der Arbeitswelt sind in vielen, vielen Berufen deutlich intensiver geworden, es muss mehr in kürzester Zeit gemacht werden. Früher, wenn man eine Anfrage per Post bekommen hat, war es völlig normal, eine Antwort erst in drei bis vier Tagen wieder per Post zurück zu bekommen, das war schon schnell.


"Wenn Sie heute auf eine Anfrage nicht innerhalb von drei bis vier Stunden reagieren, werden Sie schon für fehlende Leistungen oder für fehlenden Service gerügt."

Das heißt, die Geschwindigkeit hat zugenommen, die Vielzahl an Veränderungen und auch das Privatleben durch soziale Medien hat zu einer Vereinsamung in vielen Fällen geführt. All das tut der Seele nicht gut, und das sehen wir in der Menge der Krankschreibungen. Es gibt noch viele weitere Facetten, deshalb hat das Buch auch 240 Seiten.


Der Arbeitsmarkt hat sich zu einem Arbeitnehmermarkt gewandelt. Warum verlassen Menschen, die sich in toxischen Arbeitsumgebungen befinden, ihre Jobs oft nicht, obwohl sie es einfacher hätten als früher?


Menschen bleiben aus zwei Gründen in ihren Jobs verhaftet: Zum einen, tatsächlich, weil sie so überfordert sind, dass ihnen die Kraft fehlt, sich aus der misslichen Lage zu befreien. Das heißt, sie erdulden lieber, als den Aufwand zu betreiben, etwas Neues anzugehen. Und gleichzeitig ist damit die Sorge verbunden, dass es woanders auch nicht besser ist. Weil es zu wenig Kommunikation darüber gibt, dass es auch tolle Unternehmen gibt, die sich wirklich vorbildlich um ihre Mitarbeiter kümmern. Wenn man aber selbst bei einem Unternehmen ist, was sehr unmenschlich ist, kann man sich gar nicht vorstellen, dass es woanders viel, viel schöner ist. Deshalb bleibt es häufig beim Erkranken, anstatt dass es zur Veränderung kommt.


Welche Rolle spielen Vorgesetzte in der Entwicklung toxischer Arbeitsumgebungen, und was müssen Führungskräfte tun, um positive Veränderungen herbeizuführen?


Ich möchte den Vorgesetzten nicht den schwarzen Peter zuschieben und sie allein für viele Dinge verantwortlich machen. Häufig sind sie selbst überfordert und können gar nicht besser handeln. Das heißt, sie stehen so unter Druck, dass sie aus einem Überlebensmodus heraus häufig eine ungünstige Kommunikation wählen und in ihren Anforderungen übers Ziel hinausschießen. Um positive Veränderungen herbeizuführen, muss sich die Führungskraft erstmal selbst emotional stabilisieren, dass es ihr gut geht, dass sie mit dem Druck umgehen kann - daran scheitert es meistens schon. Doch wenn das gelingt, müssen Führungskräfte erkennen, was Mitarbeiter brauchen, nämlich Zuwendung und Zeit. Diese Zeit nimmt man sich nie, aber wer sich nicht die Zeit für seine Mitarbeiter nimmt, wird durch Fluktuation, hohe Krankenstände und eine Abwärtsspirale der Arbeitsqualität bestraft und Heim gesucht.


"Deshalb: für sich selbst sorgen, um dann für andere zu sorgen, um damit eine deutlich bessere Stimmung zu erzielen."

Und wir wissen, aus Studien, unter anderem von der Unternehmensberatung Deloitte, dass sich jeder in die mentale Gesundheit investierte Euro fünffach auszahlt, also eine Rendite von 500 Prozent hat.


Sie betonen die Wichtigkeit von “Regeneration” für langfristige Produktivität. Welche praktischen Schritte können Unternehmen gehen, um diese Regeneration aktiv zu fördern?


Die Regeneration ist häufig eine Privatsache des Arbeitnehmers, weil sie sehr häufig in der Freizeit passiert. Dort dem Unternehmen zu erlauben, einzugreifen, ist schwierig oder mehr als fragwürdig. Meine Empfehlung ist, was sie aber verbessern können, ist die Qualität der Pausen, indem die Führungskraft vorlebt, dass eine Pause auch wirklich eine Pause ist und nicht in der Pause anders oder weitergearbeitet wird. Also, wer beim Mittagessen sein Handy auf dem Tisch liegen hat, vergiftet die Arbeitskultur. Wer Pause macht, muss wieder Pause machen dürfen. Und das als Vorbild vorzuleben, ist eine ganz entscheidende Sache. Es ist eine Kleinigkeit, aber an den Kleinigkeiten entscheidet sich wirklich, was im Großen gelingen kann.


In Ihrem Buch kritisieren Sie, dass Deutschland beim Thema “psychische Gesundheit am Arbeitsplatz” deutlich hinterherhinkt. Welche Länder sehen Sie als Vorbilder und was können deutsche Unternehmen von ihnen lernen?


Egal, welches Land man jetzt heraus greift, man wird auch dort Unternehmen finden, wo es nicht perfekt läuft. Trotzdem gibt es eine andere Kultur in den skandinavischen Ländern, wenn es um die seelische Gesundheit geht, als auch zum Teil in der anglo-amerikanischen Welt. In beiden, sowohl in der anglo-amerikanischen Welt als auch in der skandinavischen, findet die Bagatellisierung und die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr statt.


"Bereits in den 70er- und 80er-Jahren war es in Amerika völlig normal, zum Psychotherapeuten zu gehen. Heute ist das bei uns immer noch mit Scham behaftet."

Das führt zu entsprechenden Belastungen. Es ist aber nicht so, dass die Amerikaner alles richtig machen, bei weitem nicht. In Skandinavien wird das „Wir“, das Gemeinsame, das Zusammen, das Solidarische, deutlich besser gelebt als in Deutschland, wo wir eine starke Individualisierung haben. Das sieht man am Rückgang der Mitglieder in Vereinen, in Kirchen und Ähnlichem. Und das führt dazu, dass das soziale Wesen, der Mensch, sich seiner sozialen Nahrung selbst entzieht. Und das läuft hier extrem schlecht.


​​Wie kann die Digitalisierung genutzt werden, um die mentale Gesundheit von Mitarbeitenden zu fördern, anstatt zusätzlichen Stress zu verursachen?


Die Digitalisierung bietet unfassbar viele Chancen. Das beginnt bei Apps, die mir beim Meditieren helfen, über Online-Programme, die mir helfen, meine Resilienz zu stärken, das hilft bei Diagnostik-Tools, die einem zeigen: Wie sehr ist man schon stressbelastet? Wie sehr dreht man schon im roten Bereich? Die Digitalisierung zu verdammen, ist Quatsch. Es gilt da, die Dinge herauszusuchen, die wirklich helfen können. Und auf der anderen Seite, analog sein Leben wieder bewusst leben zu können. Und das sehen wir gerade, es gibt zum Beispiel einen tollen Trend wieder hin zu Büchern. Gerade junge Frauen lieben es, wieder zu lesen, weil sie einfach keinen Bock mehr darauf haben, sich nur Bildchen auf Instagram anzuschauen. Das gibt mir Hoffnung.


Zu guter Letzt freuen wir uns auf einen Blick in die Zukunft: Welche Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten fünf bis zehn Jahren hinsichtlich der mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz?


"Ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine absolute Revolution erleben werden, was den Schutz der Seele am Arbeitsplatz angeht."

Bis vor Kurzem gab es auch viel zu wenige Arbeitsschutzmaßnahmen, wenn es um den Körper geht. Heutzutage gibt es viel zu wenige verbindliche Regeln zum Schutz vor Mobbing und psychischer Gewalt.


"Die Kosten, die entstehen, das heißt der wirtschaftliche Schaden – manche sprechen von 20 Milliarden, andere sogar von 50 Milliarden Euro –, werden in den nächsten Jahren weiter steigen, bis man erkennt: Wir müssen etwas machen, sonst schmiert uns die Wirtschaft ab."

Und erst unter diesem Druck werden wirklich alle auf den richtigen Weg kommen, das ist meine Hoffnung. Gleichzeitig gibt es Chancen, die moderne Technologie mit sich bringt, wie zum Beispiel therapiegestützte Maßnahmen durch KI, die dazu beitragen werden, dass die psychische Gesundheit wieder stabilisiert wird. Aber dieses Umdenken ist notwendig, und


ich bleibe Optimist.



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